Denkschrift über den Kult des heiligen Blutes
in der Pfarrkirche zu Weingarten1
Friedrich Konrad Ludwig Hoyer hatte diese „Denkschrift über den Kult des heiligen Blutes in der Pfarrkirche zu Weingarten“ verfasst. Der Text erschien 1838 gedruckt als lithographierte Schrift in Weingarten und wurde aus Kurrentschrift in leichter lesbare Form übertragen, sowie in Grammatik und Rechtschreibung sachte an heutige Lesegewohnheiten angepasst.
„Aber der Hauptmann und die bei ihm waren und bewahrten Jesum, da sie sahen das Erdbeben und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich! dieser ist Gottes Sohn gewesen.2 Hernach aber öffnete der Kriegsknechte einer, Jesu Seite mit einem Speer und alsbald ging Blut und Wasser heraus.“3
An diesem Evangelium gleich wie an einem diamantenen Anker beginnt und ruht die Kette der Urkunden und Überlieferungen, welche für Weingarten den örtlichen Kult des heiligen Blutes, seine Entstehung und seine Schicksale begründen. Der Heilige sollte die Verwesung nicht sehen4, auch im kleinsten Teile nicht. In Allem sollte das Verwesliche anziehen, das Unverwesliche5. Die Erde sollte weder den Leib in sich auflösen, noch das ihm entströmende Blut trinken.
Das Kreuz, welches nun schon durch achtzehn Jahrhunderte hindurch diese dunkle Erde durchstrahlt, sollte die Reise aller göttlichen Entwicklungen beginnen und die Quelle bezeichnen für alle Lichtstrahlen des neuen Gottesreiches. Unter ihm stand der im Anblick des Göttlichen und unter den Ängsten u. Wehen erzitternder Natur wunderbar zum Christus Bekenner gereifte Römerhauptmann. Er bewahrte Teile des Blutes, das unter seinen Händen, dem Leibe des Heiligen entfloss.
Wenn die Menschen einander seinen Namen als Longinus – wie schon das älteste (obschon apokryphische) Nicodemus-Evangelium und des Römers Heimat, Mantua, zuriefen, ist es zu verwundern, dass auch ein Jahrhundert dem anderen den Namen und die Heimat des ersten Christen zurief? Ebenso dem Weltlauf gemäß ist es, dass er, der die Götter des heidnischen Olymps und als Christusjünger den Kriegerstand verließ, sich der italienischen Heimat zuwandte und hier den ersten Christenverfolgungen als Märtyrer erlag.
Wenn aber von hier an, des von ihm bewahrten Heiligtums 800 Jahre lang und dann weitere 249 Jahre gegen die Stürme der Völkerwanderung fortgesetzte Verbergung in mantuanischer Erde, dann dessen zweimalige Auffindung und Wiedererkennung, endlich dessen dreiteilige Zerlegung und Ausfolge (an Kaiser, Mantua u. Rom) durch eine Reihe von Urkunden der Kaiser und Literatoren bewahrt werden: So können alle diese, obschon miteinander übereinstimmenden Diplome den Wunderschleier nicht heben, welcher, wie überhaupt über jener glaubenskräftigen Zeit, so auch über diesen Ereignissen schwebt.
In dieser Region der Wunder geht der neueren Welt der Atem aus. Wo aber unermessliche Wunder, wie Totenerweckung, Auferstehung, Himmelfahrt vorangingen, wer wird die Grenze, wo die Wunderzeit aufhörte, zu bestimmen und die Möglichkeit nachgefolgter, viel kleinerer zu leugnen wagen? Wer wird die Menschheit der Möglichkeit anklagen, dass sie viele Generationen und Jahrhunderte hindurch vernünftiger Wahrnehmung entrückt und am meisten in ihren Edelsten und Gebildetesten, in frommer Selbsttäuschung, sagenhafter Dichtung oder gar in arglistigem Trug gefangen gelegen? Jede Stufe menschlicher Entwicklung hat ihre eigentümlichen Anlagen und Bedürfnisse und im großen Erziehungsplane für dieses Geschlecht liegen die jeder Stufe und Anlage entsprechenden Anstalten. Kaum zu den ersten Begriffen keimender Zivilisation und zur ersten Entfaltung religiöser Anlagen erwacht, hatten die Völker, die sich auf dem weiten Boden des untergegangenen Römerreiches gelagert, weder Anlagen und Fähigkeit zu Denkgläubigkeit und Spiritualismus, noch so viel Herzschwäche sich dadurch zu beruhigen.
„Die Persönlichkeit schloss sich damals nur an Lebendiges, Persönliches, an allgemeine Sätze, bloße Begriffe setzten wenig in Bewegung und wenn man sich Christus und Maria nicht näher gefühlt, nicht enger mit ihnen gelebt hätte, wie wäre z.B. so große Begeisterung für die Errettung des heiligen Landes möglich gewesen? Die Vorteile, welche aus dem fleißigen Hinblicken auf die Helden des Christentums entstehen können und müssen, sind in späteren Zeiten zu sehr in den Hintergrund gestellt oder ganz geleugnet worden.“ (Raumer Geschichte der Hohenstaufen, 6ter Band Seite 244.)6
Acht Jahrhunderte waren nötig, um das Christentum bleibend auf dem abendländischen Kaiserthron zu befestigen. Wer wird mit Insektenaugen dem Weltenauge, dem starken Arm, der die Jahrhunderte in ihrem Bette leitet, die Wege vorrechnen, die zu ergreifen waren, um das Christentum aus seiner Wiege groß zu ziehen, um die Völker wach zu erhalten, um ihr erschlafftes Zurückhinken in Barbarei abzuwenden?
Aus dieser Region der Wunder heraus tritt man zuerst wieder auf den Boden der eigentlichen Geschichte am 31. März 1090. An diesem Tag übergibt in Weingarten Judith, Tochter des Grafen Balduin, den auf diesen von König Heinrich vererbten Longinus-Schatz des heiligen Blutes (jenes einst dem Kaiser zugeschiedenen Drittels) feierlichst dem Gotteshause Weingarten. Bis dahin hatten die heldenmütig frommen Inhaber diesen Weiheschatz als heilige Ägide gegen alle [Ge]Fährlichkeit unzertrennlich stets mit sich geführt.
Fortan ward dieser Tag, die Festlichkeit der ersten Übergabe nachbildend, mit Prozession und öffentlichen Dankgebeten gefeiert. Schon hatten unzählbare Fürsten, Bischöfe und Religiösen aller Grade diese Feier teils geteilt und mit begangen, teils bestätigt, aber noch fehlte dieses Festtages kirchenoberhauptliche solenne Anerkenntnis und Konfirmation. Oft nachgesucht und lange hingehalten erfolgte endlich, auf Vorlegen des Zyklus aller Diplome und Überlieferungen, die Untersuchung und Prüfung des S. Collegiums aller Kardinäle und auf ihren Antrag ließ endlich Papst Innocenz der XII. am 10ten Jänner 1693 jene Bulla confirmationis ergehen, die allen nachgefolgten Päpstlichen und Kaiserlichen Gnadenbriefen zu Grunde liegend, für ewige Zeiten den Festtag regulierte, der das Andenken und das Dankgebet für Zuwendung dieser heiligen Überreste auf die Nachwelt und alle kommenden Geschlechter übertragen sollte! Nicht nur aber diese kirchliche, sondern auch die Weihe des Rechts, dieses die Menschheit irdisch vereinenden Bandes, ward diesem Kult zuteil.
Welf der IV. (auch der Stifter genannt) spricht im Jahr 1090 in jener, die Herrschaft Weingarten vorgebenden Urkunde: „Wir opfern dem heiligen Blut unseres Herrn Jesu Christi nachfolgende Güter, als 1. die Gewalt im Altdorfer Wald, u.s.w. Wer diese Güter dem Gotteshaus entführte oder mit Willen geschwächt oder irgendeine Sache unnutzbar macht, den tue Gott in den ewigen Bann und Fluch und scheide ihn von allem himmlischen Sold und schlage ihn in den ewigen Tod!“
Ebenso sagt 128 Jahre später Kaiser Friedrich der II.te in einer Urkunde vom Jahr 1218: „Hierwegen tun wir auch insgemein zu wissen, dass wir das Kloster Weingarten, so von den Herzogen Welfen löblicher Gedächtnisse in der Ehre des Heiligen Blutes unseres Herrn Jesu Christi xx mit aller Zugehör empfangen, unter unsern und des heiligen Reichsschirm nehmen.“
Was auch über dieser Reliquie Verleihung an dieses Gotteshaus und über die daran geknüpften Kulte, als wären sie zu allen Zeiten dem regularisierenden Oberaufsichtrecht der Kirche unterworfen, dissertiert und behauptet werden mag, immer wird jedoch dasjenige neue und weitere Rechtsverhältnis anzuerkennen und zu beachten sein, welches durch Zuwendung von gestifteten und vergabten Realitäten an diese Kultanstalt, als Kirchliches Institut erwuchs. Dieser gestifteten Güter Inhaber (im vorliegenden Fall der Staat) wird somit entweder die Kultanstalt (als empfangende und erwerbende juristische Person) in dem Dasein zu erhalten, oder zu erwarten haben, dass die an sie gebundenen Realitäten als vakantes Stiftungsgut erklärt und reklamiert werden.

Heilig-Blut-Tafel von 1489 (unbekannter Künstler)
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heilig-Blut-Tafel_Weingarten_1489_img003.jpg
Allein dies alles, die Diplome der Kaiser und der Päpste, Religion und Vertrag, Segen und Fluch konnten die mannigfachsten Anfechtungen dieses harmlosen Kults nicht zurückhalten. Abgesehen von den heidnischen waren es hauptsächlich christliche Verfolgungen, die diesen Kirchenschatz zwar nicht wie jene unter den Boden, aber aus dem Herzen reißen wollten. Das große Drama des Kirchenspalts am Saum des 16ten Seculi [Jahrhunderts], im 18ten das Gift des Materialismus und einer von Gott und Ewigkeit abgefallenen Weltweisheit, hierauf wie in Frankreich dem Altar das Staatsgebäude erschütternd und dröhnend nachstürzte – all dies musste die Bresche öffnen, durch die das 19.te Jahrhundert einzog!
Wie die Bewegung vom Mann in der Mönchskutte auch auf die katholisch gebliebene Kirche wirkte, ist welthistorisch festgestellte Tatsache. Die großartigste Erscheinung dieses ‚In-Sich-Selbst-Zurückziehens‘ der alten Kirche ist das Tridentische Concilium. Größtenteils von eben denselben Richtungen aus, in welche sich die Dissidenten abgeschieden, strebte dieser ehrwürdige Synodus die Kirche wenigstens für die Folge von den Vorwürfen zu befreien, welche das traurige Schisma herbeiführten. Unter diesen war bekanntlich der, protestantischerseits auf die äußerste Spitze getriebene, Vorwurf des Bilder- und Reliquiendienstes.
Mit jener Weisheit, die bis in unsere Tage, neben der erhebenden Einwirkung auf die Kunstkultur, als die richtige Mitte haltend, anerkannt wurde, strebte jener große Synodus, jede Abirrung in Götzendienst mit zürnendem Ernst zu zermalmen und doch in Zulassung edler Bilder und Denkmale, der sinnlich geistigen Natur der Menschenkinder jene Brücke zu erhalten, die in der Anschauung des Typus oder der Form aufsteigend zum Übersinnlichen und zum Wesen gewonnen wird. Dass nie das Bild für sich selbst Subjekt des Anrufs und Gebets werde, wurde in allen Redeformen einschneidend zum Worte gebracht, aber dabei dann doch (Sessione XXV. im Kapitel „de reliquiis e. e.) gesagt:
„Auch die Leiber derer, die einst für das Evangelium den Tod erlitten und die nun mit Christo leben, – auch diese Leiber, zuvor Tempel des heiligen Geistes, sind von den Gläubigen hochzuschätzen, und derjenige, welcher lehrt dass den Reliquien der Heiligen keine Ehre gebühre und dass diese Ehre eitel unnütz sei, – solche sind und werden anmit von der Kirche verflucht.“
Indessen – jene empörten Wellen des zu Ende rinnenden 18ten Jahrhunderts, – sie schlugen noch nicht an dieses stille friedliche Gotteshaus. Als aber endlich das Hauptstift, der Stamm selbst zusammenstürzt, so konnten auch die unter ihm gelagerten Anstalten und frommen Werke, obschon Ewigkeit hoffend, der gewaltigen Axt nicht entrinnen. Merkwürdig und unverkennbar eine Erbschaft der Zopfpredigerzeit, ist der Hohn und Ingrimm, die wegwerfende Verachtung, womit die Axt an die Gebilde einer frommen Vorzeit gelegt wurde. Schien ja schon der bloße Name: „Blutfreitag“ – „Blutritt“ mit denen das Red-abkürzende Volk, jene Tage bezeichnet hatte, zu ihrer Abschaffung hinzureichen. Man untersuchte nicht lange den religiös-kirchlichen, den rechtlich-sittlichen Charakter dieser Kulte und selbst Sicherungs- und Kriminalpolizei müssten ihr Kontingent zu den Gründen stellen, mit denen man die Abschaffung dieser harmlosen Gottesdienste beschwor.
Diese Verfolgung, in welcher die damalige Königl. Baiersche Landesdirektion in Schwaben, den Reigen eröffnete, konnte ja doch keine Fortdauer finden in einer ruhigeren, in einer sich konstituierenden Zeit, welche in ihre Fortschritte auch Gerechtigkeit und Weisheit, nicht nur Raschheit legen wollte. Indessen – bleiben, allwärts sich zeigen, musste immerhin der Gegensatz, in welchem eine, die Religion auf Begriff zurückführende, spiritualisierende Zeit, über eine gefühls- und glaubensstarke, zu Gericht sitzt und so blieb es bei dem Verbot des s. g. Blut-Umritts und jeder weiteren, über die gestattete Prozession hinausgehenden Feierlichkeit.
Also verblieb es, bis das im Februar 1838 verkündete, neueste Kirchengebot vom Juni 1837 in seinen 24ten und 25ten § sogar
1. die Aufstellung der Reliquie auch nur auf dem Altar, (vielmehr ihre Verbergung unter Schloss und Riegel) verbot und
2. jede Prozession, und
3. (somit schon dadurch) alles Herumtragen dieses Kirchenschatzes niederschlug.
In Gemäßheit der ergangenen Verordnungen, hat seit 26 Jahren diejenige Solennität aufgehört, wo aus vielen umliegenden Kirchspielen kompanieweise geordnete und eigens ausgerüstete Reiter, der Jahresprozession einen – mit der Religion des Friedens und der Demut vielleicht kontrastierenden Glanz gaben. Er beruhte aber wesentlich auf dem frommen Volksglauben, an einen, auf Feld, Haus und Vieh, aus diesem Dienst für das ganze Jahr sich verbreitenden Segen und daher ist auch die Sitte geblieben: dass an diesem Tage viele hundert Männer, einzeln oder in Gruppen, die Altdorfer Flur umreiten.
Die übrige und eigentliche Prozession war geblieben. Mit ihr zog die geheiligte Reliquie umher und auf den geeigneten Orten erfolgte die Vorlesung des Evangeliums, unter Volksgesang und priesterlichem Segen. Noch und bis auf die neuesten Jahre waren 6tausend bis 10tausend Gläubige, die Genossen dieses Tages aus Nähe und Ferne; ein Zeugnis des im Volk noch immer nicht untergegangenen Glaubens an des alten Heiligtums hohe Würde und Kraft und an die besondere Weihe der hier, im Aufblick zum Erlöser vorgehenden Begehung der Sakramente der Beichte und des Altares.
So wie beides weggenommen und also die Andacht vermittelnde Reliquie zum dritten und letzten Male begraben und das Sakrament unmöglich gema[cht]7 wird, weil kein Priester mehr für sie da ist: So wird für immer und auf einmal diese Menge von Gläubigen zerstäubt sein. Wohl wird eingewendet: einmal müsse das Volk vom Äußerlichen zum Innern der Religion des Geistes hinübergeführt, einmal der gereifte erwachsene Christ den Windeln enthoben und das Apostelwort: „als ich ein Mann war, tat ich ab, was kindisch war,“8 erfüllt werden. Allein werden je die Bedingungen der vom Sichtbaren zum Unsichtbaren sich aufschwingenden Andacht aufhören? Wird je ein durch die Stimmen und die Andacht von 40 Generationen beglaubigter Überrest von dem Blut, „das für die Erlösung der Welt floss,“ für die Christen geringfügig und gleichgültig werden können? Wird jene Reihe von ehrwürdigen Zeugen berichteter, an Gläubigen dadurch bis auf unsere Tage vermittelter wundervoller Gnadenwirkungen, je im Andenken des Volks vertilgt werden können?
„Wer so glaubt, dem ist das Heilige nahe,“ und wenn in moderner Zeit nur wenige dieser Gnadenwirkungen mehr hervortreten, so liegt wohl allein die Erklärung darin, dass unserer Zeit das Organ, die Kraft des hingebenden, sich selbst aufgebenden Glaubens erloschen ist, durch das jene Welt sich dem Menschen öffnet, aus der er kommt und in die er zurückgeht. Zuletzt ist selbst das Wunderbare der Sache an sich selbst und gegenüber allen bekannten Naturgesetzen, nicht außer Beziehung auf jenen Glauben zu setzen. Ein Geschlecht sagte es dem Andern: wie dieser in Kristall hermetisch verschlossene Körper, zwar immer eben dieselbe Größe und Farbe behalten, zu Zeiten jedoch flüssig, zu anderer Zeit trocken erschienen. Und welcher andere Blutstropfen wäre nicht in wenig Jahren in – Nichts aufgelöst worden!
Überall kann Gott angebetet werden im Geist und in der Wahrheit, dass es aber dennoch Orte gibt, die durch an sie geknüpfte Erinnerungen, durch in ihnen dargebotene sichtbare Gegenstände, der Entwicklung religiöser Gefühle und der Andacht der Gläubigen besonders günstig sind, – ist darum nicht in Abrede zu ziehen. Auch in unseren Tagen ist dieses Bedürfnis gläubiger Herzen noch nicht verschwunden und ebensowenig nur auf die minderen Volksstände beschränkt. Alle Jahre sahen wir eine erlauchte Kaiserfamilie andachtsvoll nach Mariazell wandern.
Wohl mag bei so vielen kirchlich- wie politisch zuvor selbstständigen, nun unter einem Oberhirten vereinigten Kirchen, diesem unbestritten zustehen, von dem zur Zeit der Selbstständigkeiten den Einzelnen eingeräumten, das Widersprechende zu vermitteln und die einer guten kirchlichen Gesamtordnung widerstrebenden Elemente ehemaliger Vereinzelung, zu einem harmonischen Ganzen umzubilden. Allein eine zur Feier des Erlösers und seines Werks einmal des Jahres vorgehende, zumal vom Oberhaupt der Kirche feierlich bestätigte Feier kann in keiner christlichen Kirche, für widerstrebend guter kirchlicher Ordnung erkannt und (mit dem Volk zu reden) in’s alte Eisen geworfen werden.
Das tridentinische Concilium sagt ausdrücklich (Sessio XIII. Cap V.) „Nichts ist angemessener, als dass gewisse Tage geordnet seien, wo alle Christen sich vereinigen, um dem gemeinschaftlichen Herrn und Erlöser für die unaussprechliche und göttliche Wohltat vom Sieg seines Todes, sich dankbar und eingedenk zu erweisen.“ Nirgends ist also eine kirchliche Notwendigkeit und Befugnis einzusehen, eine Stiftung gänzlich zu unterdrücken, die sich nur durch deren jährliche Begehung äußert, auf welcher die erheblichsten, den Rechtstitel ihres Besitzers begründenden Vergebungen ruhen, die durch eine Reihe von Beschlüssen der Oberhäupter der Kirche bestätigt, durch Edikte der Kaiser geschirmt, durch eine Schar der ehrwürdigsten Zungen und endlich durch den Glauben und die Andacht von Acht Jahrhunderten geweiht ist. Solch eine vernichtende Übung kirchlicher Regimentsgewalt, vollbracht an solch einer Sache, könnte die Gemüter nur teils mit sich selbst, teils mit der Kirche entzweien.
Der Kult kann entzogen, das Vehikel der Andacht eingesperrt werden, Allein – welche Gedanken und Empfindungen die Stelle der bisherigen in den Gemütern der Gläubigen einnehmen werden, – ob mit den bisherigen Übungen frommer Andacht nicht auch der auf das Heilige gerichtete Sinn ertötet, die Abwendung vom äußerlich Heiligen aus Streben nach Vergeistigung, nicht als Abwendung aus Geringschätzung angesehen und so als erkältendes Gift wirksam wird? – Dies sind Fragen, die jeder zu verneinen um so weniger sich beeilen wird, je vertrauter ihm die Zustände des Volks und die Zeichen der Gegenwart sind.
Die ehrwürdige katholische Kirche würde ihre Einheit und siegreiche Existenz wohl schwerlich durch 18 Jahrhunderte gerettet haben, hätte ihrer Erscheinung oder ihrem Kult nicht jene, die Bedingungen allgemein-menschlicher Erhebung zum Ewigen und Unsichtbaren beachtende – Weisheit vorgestanden und hätte ihr stattdessen das Prinzip der Vergeistigung präsidiert, bei dem, weil darin Indvidualität also das Mannigfache vorherrschen, die Kirche in unzählbare Sekten zerrinnt.
Einst, wenn schon lange vorher die Masse nach den Sakramenten der Beichte und des Altars sehnsüchtig herbeigedrängter Gläubigen verschwunden und zerronnen sein wird – weil kein Priester mehr da ist, sie an diesen Tagen zu empfangen, einst wenn nie mehr der fromme Großvater, die andächtigen Hausmütter, gefolgt von betenden Kindern und Enkeln an den Altar jenes Blutes wallen wird, das für die Sünden der Welt vergossen ward; wenn keine Schar der Gläubigen mehr, jenes Pfand der Unsterblichkeit in ihrer Mitte, unter Gottes glänzendem Himmel mehr die Fluren segnend durchwallt; dann, wenn Schulgezänke statt des Gebets, eitler Wissensprunk statt der Andacht zur Herrschaft gelangt sein werden; dann erst wird der Unterschied klar werden zwischen einem ruhigen, dem Glauben seiner Väter treuen Volke und einem Denkgläubigen, eben daher in sich zerrissenen, von seiner Vorzeit abgeschnitten fortwankenden Geschlecht!
Weingarten, den 25ten März 1838.
Anmerkung bei Wikisource: „Der Textautor des anonym erschienenen Pamphlets, das die von der evangelischen württembergischen Obrigkeit wie auch von der katholischen staatskirchlich-aufgeklärten Kirchenleitung abgelehnte Heilig-Blut-Verehrung verteidigte, war der aus Aalen stammende evangelische Ravensburger Oberamtmann Hoyer. Seine Autorschaft wurde bald bekannt; zur Strafe wurde er danach in das kleinste württembergische Oberamt Gerabronn versetzt. Joseph Bayer lithographierte das Werk in deutscher Kurrentschrift.“
Den vorliegenden Text hatte Andreas Praefke für Wikisource aus Kurrent in maschinenlesbare Schrift transkribiert. Ich habe dessen Text aus Wikisource wiederum zur leichteren Lesbarkeit an heute gültige Rechtschreibung und Grammatik angepasst und Absätze sinngemäß für die Textstrukturierung gesetzt. Dadurch können Sinnverschiebungen entstanden sein.
Verlag von Joseph Bayer in Altdorf, . Permalink:vgl. Oberschwaben-Portal; ausführlich bei Vadim Oswalt: Staat und ländliche Lebenswelt in Oberschwaben 1810–1871. (K)ein Kapitel im Zivilisationsprozeß? DRW, Leinfelden-Echterdingen 2000, ISBN 3-87181-429-6 (zugl. Diss., Universität Tübingen, 1998/99), S. 181–192, sowie Alfred Lutz: Zwischen Verbot und Wiederbelebung. Der Heilig-Blut-Kult in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Norbert Kruse, Hans Ulrich Rudolf (Hrsg.): 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten 1094-1994. 3 Bde. Thorbecke, Sigmaringen 1994, ISBN 3-7995-0398-6, Bd. 1, S. 151–161 (mit fehlerhafter Transkription von Auszügen)
2 Matthäus 27,54
6 MDZ München (ganz unten und Folgeseite)
7 Scan am Zeilenende unlesbar